Über den Holzweg in die Zukunft

Hermes hatte die Gondel auf 12:30 Uhr bestellt. Doch dann kam doch noch ein Kunde rein. Was soll’s. Die Gondel wartet auch ein paar Minuten. Kunde bedient. Hermes packt seine Tasche und ab geht’s zum auswärtigen Termin mit der Gondel „Workplace”, ausgestattet mit Arbeitstisch, Ladestation und kleiner Kaffeemaschine. 

Nahezu geräuschlos fährt die Gondel aus der verwinkelten Zürcher Altstadt zum nächsten Knotenpunkt, wo sie sich mit anderen Gondeln zu einem Gondelzug zusammenfügt – ohne Berührung, rein auf Basis von Sensoren, die einen festen Abstand zwischen den Gondeln halten. Er würde trotzdem noch pünktlich sein zum nächsten Termin. Staus – das war einmal, als es noch den selbstfahrenden Individualverkehr gab. Was für ein Durcheinander diese Autofahrer oft anrichteten. Gar nicht mehr vorstellbar, dass man Menschen jemals hat selbst fahren lassen.
 
Aber auch dieser absurde öffentliche Verkehr seinerzeit. Damals, vor nunmehr 25 Jahren, im Jahr 2023, dachte man für eine Weile, die Zukunft läge in diesem sogenannten ÖV. Man wollte unter anderem Abermilliarden in starre Schienen investieren – was sich nur über Jahrzehnte rechnen würde, obwohl doch niemand auch nur für die nächsten Jahre wissen konnte, wie sich die Verkehrsströme verändern würden. Zu dramatisch waren die anstehenden Entwicklungen von Home-Office bis Stadtflucht (nachdem die Städte drei Jahrzehnte sehr beliebt waren).
 

Abstimmung mit Füssen

Vor allem wähnten sich 2023 die 20% der Bevölkerung, die den ÖV nutzten, auf der richtigen Seite der Geschichte. Es ging darum, die anderen 80% umerziehen und auch an den ÖV zu gewöhnen. Keine Zweifel hatten die ÖV-Afficionados an ihrem Verkehrssystem, obwohl es einen nicht wirklich da abholte, wo man war, und auch nicht genau dort absetzte, wo man hin wollte. Allein das entbehrte nicht einer gewissen Absurdität, wenn es doch einfach auch anders ging. Viel zu wenig Gedanken verwendete man lange Zeit in unseren Breitengraden darauf, das Verkehrssystem der Zukunft so attraktiv zu machen, dass die 80% Individualverkehrs-Befürworter freiwillig auf ihre Autos verzichten würden. Und so konnte es eigentlich niemanden überraschen, dass der öffentliche Verkehr damaliger Prägung nie die breite Akzeptanz in der Bevölkerung fand. Warum sollten sich auch alle an fixe „Haltestellen“ (so etwas gab es damals) begeben, um sich dann in einem gemeinsamen Waggon an einen Ort bringen zu lassen, der nur ungefähr dort war, wo man hin musste, aber nie genau?

Dabei hatte man 2023 schon sämtliche Technologien, um das heutige Verkehrssystem der selbstfahrenden Gondeln aufzubauen. In San Francisco fuhren zu jener Zeit bereits rein softwaregesteuerte Taxis. Das Modell Zoox von Amazon war dann sogar schon eine Vorform der Gondeln,, erinnerte schon weniger an die damaligen menschengesteuerten Autos. Es waren einfach noch nicht die eleganten Gondeln von heute, aber sie fuhren autonom von A nach B.

Die selbstfahrenden Taxis hatten ihre Kinderkrankheiten. Aber welche Technologie hat das nicht? Schnell realisierte man, dass die Zahl der Unfälle mit computergesteuerten Fahrzeugen deutlich geringer sind würde, als wenn Menschen sie steuerten. 

ALTE ZÖPFE STATT INNOVATIVE KONZEPTE

Solange Autos noch Verbrennermotoren mit schrecklichem Wirkungsgrad hatten und die Luft verpesteten, konnte man zumindest mit der Umwelt für den wenig komfortablen öffentlichen Verkehr damaliger Prägung argumentieren. Mit dem Aufkommen der Elektroautos aber entfiel dieses Argument zunehmend. Anthony Patt, Professor für Klimaschutz und -anpassung an der ETH Zürich, stellte schon damals fest, dass “Elektroautos, in denen mindestens zwei Fahrgäste sitzen, pro Passagierkilometer einen ähnlichen und in manchen Fällen sogar tieferen Stromverbrauch als die Bahn“ hatten. Und diese Elektroautos waren ja noch mehr als 2 Tonnen schwer, noch lange nicht so effizient wie sie sein konnten. Trotzdem setzte man noch eine Weile auf die Schiene – vielleicht aus Romantik, vielleicht, weil sonstige Behaarungskräfte wirkten. Man möchte gar nicht ausrechnen, welchen Unfug der Mensch schon alles finanziert hat, weil er alte Zöpfe nicht abschneiden konnte.

Ein wenig war es aber auch ein Kulturkampf. Auf der einen Seite die in ihrer Wahrnehmung so aufgeklärten Städter, die den anderen auf dem Lande, die es nicht verstanden, erklären wollten, dass er doch bitte auf sein Auto verzichten sollte. Man sollte halt nicht mehr direkt von A nach B reisen, sondern müsse nun mal zu Haltestellen gehen/eilen. Man sollte nicht mehr erwarten, für sich seine Kabine zu haben, sondern man müsse mit vielen anderen einen grossen Raum teilen. Das wollten viele nicht. Der Ausbau des ÖV war so von Anfang an ein Rohrkrepierer. Man hätte es wissen können. Wenn 80 % am Individualverkehr festhielten, obwohl die Städte es den Menschen auf dem Land immer schwerer gemacht hatten, mit dem Auto in die Stadt zu kommen, dann lag das einfach am falschen Konzept. Zu viele Nachteile, zu viele Einschränkungen hatte der öffentliche Verkehr damals. 

AUTONOME GONDELN - DAS BESTE BEIDER WELTEN

Dabei konnte man die vermeintliche Konkurrenz zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr so leicht auflösen und die Vorteile beider Systeme vereinen. Hermes kann heute, im April 2048, nur noch den Kopf schütteln über die Irrungen und Wirrungen seiner Elterngeneration. Verbohrt war die Diskussion damals, wenig visionär. Natürlich will man exakt vom Startpunkt zum Ziel fahren. Natürlich will jeder Reisende lieber für sich in einer Kabine sitzen. Natürlich besitzt aber auch kaum jemand ein Fortbewegungsmittel mehr selbst. Diese Autos im privaten Besitz standen ja die weitaus meiste Zeit nur rum. Und vor allem, und das war die wahre Innovation, kann man seine Gondel mit unterschiedlicher Ausstattung wählen – je nach Reisegrund, Tageszeit und Interesse.
 
Bald ist es 18:30 Uhr. Hermes wird sein Geschäft abschliessen und sich von der herrlichen Sauna-Gondel zum Nachtessen bei seinen Freunden Athene und Christopherus in Entlebuch bringen lassen. Gut eine Stunde wird er unterwegs sein. Eine angenehme Stunde wird das. Wie konnte man früher nur so viel Zeit nutzlos mit der Fortbewegung verbringen? Mit den heutigen Gondeln kann jede Reise einen Zweck haben. Oder einfach Spass machen. Eine Rolling Stones-Gondel, konzipiert in Zusammenarbeit mit dem mittlerweile 90 Jahre alten Keith Richards, ist bereits für 22 Uhr bestellt, wenn es zurück geht für einen Schlummi in einer Bar im Zürcher Niederdorf.
 
Hermes schaut aus dem Fenster seiner verspiegelten Sauna-Gondel auf das wundervolle neue Zürseeufer. Die neuen Wohneinheiten, die man auf den früheren Schienentrassen gebaut hat, haben viele Menschen sehr glücklich gemacht. Was für eine Verschwendung das war, direkt am See diese Schienen. Aber eben, man hatte diese 1875 gelegt und dann nie mehr wieder einen Weg gefunden, es zu korrigieren. Ein starres Verkehrssystem halt, komplett absurd. 
 
Für die Gondeln konnte man einfach das bestehende Strassennetz benutzen. Und in den Innenstädten hat man, wo immer möglich, zwei Etagen eingerichtet – eine untere für die Gondeln und darüber Grünflächen, wo sich früher in einem schrägen Wettkampf Autos, Busse und Trams befanden, Erstere im Stau, kämpfend um jeden Meter, Letztere als ÖV-Alternative aber auch mit gerade mal effektiv 6-10 km/h. Die Gondeln heute sind nicht grad rasant, innerorts max. 20 km/h und ausserorts 100 – aber das fahren sie dann auch. 
2048 dann mit Rädern? Die Saunagondel des Schweizer Unternehmens Küng.

Sorgen hatte man damals zunächst bzgl. dem Platzbedarf für all die Gondeln. Aber das war ein Denkfehler. Durch das Sharing der Gondeln braucht es ja heute viel weniger solche, als es damals Autos hatte. Die Gonzelzüge, elektronisch verknüpft, können dazu viel näher beieinander fahren. Und es gibt kein menschengemachtes Stop and Go mehr, keine Staus. Der grosse zusätzliche Luxus waren dann in gewissen Downtown-Regionen besagte zwei Etagen. Das machte die Innenstädte lebenswert, ohne auch nur einen Hauch von Einschränkung in der Mobilität zu haben. 

Schade um die Milliarden, die in den 2020er Jahren noch in den Ausbau des ÖVs alter Prägung investiert wurden. Dass Dutzende von Menschen in einem Gefährt zusammen reisten, das gibt es heute nur noch auf der Langstrecke. Die sogenannten Hyperloops waren wohl noch nicht der Durchbruch, aber in die Richtung ging es dann, luftleere Röhren, durch die Züge mit unglaublicher Geschwindigkeit gleiten können. Zürich-Berlin dauert heute keine drei Stunden. Niemand würde dafür noch einen Flieger nehmen. Auch so eine Absurdität, Kurzstreckenflüge. Aber die waren dann schnell abgeschafft. Geflogen wurde nur noch bei sehr grossen Entfernungen.

Hermes geht zu Bett. Morgen ist sein freier Tag. Da fahren er und seine fünfjährige Tochter mit der Lego-Gondel nach Sattel/SZ, dort dann mit der Seilbahn hoch zum Spielparadies an der Bergstation – in einer Gondel. Wer hätte gedacht, dass diese einmal Vorbild sein würde für das Verkehrssystem der Zukunft….