Wie eine einzige Massnahme gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt – und warum wir sie jetzt durchsetzen müssen.
Hans schreibt Vera von Signal auf WhatsApp, ob sie Zeit für eine Pilzsuche hat. Vera findet die Idee toll, teilt sie mit Freunden, schreibt ihnen von ihrem WhatsApp-Account , ob sie nun WhatsApp, Signal, Threema, etc. benutzen. Es spielt keine Rolle. Man kann von jeder zu jeder anderen App schreiben. Was bei E-Mails seit jeher Standard ist, fehlt bei den Messengern: Interoperabilität. Das muss sich ändern – und zwar jetzt. Die gute Nachricht: Die EU hat es bereits beschlossen. Nun muss es auch passieren.
Im November 2022 trat der Digital Markets Act (DMA) der EU in Kraft. Er verpflichtet marktbeherrschende Messenger wie WhatsApp, Facebook Messenger oder iMessage dazu, Schnittstellen zu öffnen. Künftig sollen Nutzer auch mit anderen Apps kommunizieren können – direkt, einfach, sicher. Was lange wie eine Utopie klang, ist nun geltendes Recht. Doch auf die Euphorie folgte die Ernüchterung: Die Umsetzung stockt. Obwohl technisch machbar, tun sich die Anbieter künstlich schwer. Es drängt sich der Verdacht auf, dass auf Zeit gespielt wird. Selbst die Musterknaben Signal und Threema mauern.
Die EU muss Kurs halten. Denn wer heute seine Nutzerbasis exklusiv kontrolliert, kontrolliert den Markt. Die Anbieter der führenden Messenger haben wenig Interesse daran, ihre markbeherrschende Stellung freiwillig zu schwächen. Entsprechend laut sind die Bedenken, die vorgebracht werden: Sicherheitsrisiken, technische Komplexität, Datenschutzprobleme. Doch diese Argumente sind bei genauerem Hinsehen Ausreden.
Die technischen Hürden sind lösbar
Bereits heute existieren interoperable Messenger-Protokolle. Signal ist bewährt, Open Source und wäre eine geeignete Basis. Matrix ist ein weiteres offenes Protokoll, das unter anderem bei der deutschen Bundeswehr im Einsatz ist. Der Austausch von Textnachrichten zwischen unterschiedlichen Diensten funktioniert bereits in Pilotprojekten – stabil und verschlüsselt. Natürlich gibt es Herausforderungen bei Metadaten, Rufnummern oder Gruppenfunktionen. Aber nichts davon ist ein „Hexenwerk“, wie Matrix-Mitgründer Matthew Hodgson betont. Wenn ein Entwicklerteam innerhalb weniger Wochen eine funktionierende Brücke zwischen WhatsApp und Google Chat demonstrieren kann, dann kann man das auch in einem professionellen Rahmen skalieren.
Warum Interoperabilität so wichtig ist
Würde man das Internet heute neu entwerfen, käme man nie auf die Idee, einigen wenigen dominanten Playern marktbeherrschende Stellungen einzuräumen, sondern würde Regeln für einen offenen und fairen Wettbewerb etablieren. Die Realität sieht jedoch anders aus: WhatsApp dominiert bei den Messengern, Newcomer haben kaum Chancen, auf Augenhöhe nachzuziehen – ein folgenschwerer „Betriebsunfall“.
Unerklärlich ist es nicht, dass es so kam. Digitale Plattformen werden durch Netzwerkeffekte mächtig und das führt ohne klare Regeln zur ungewollten Konzentration. Damit muss man sich aber nicht abfinden. So wie man einst Standard Oil zerschlagen hat, muss auch heute korrigierend eingegriffen werden, um gesunde Marktverhältnisse herzustellen.
Eine einzige, dafür sehr wirkungsvolle Massnahme würde diesen Missstand fundamental korrigieren: ein standardisiertes Kommunikationsprotokoll für sämtliche Messenger und damit besagte Interoperabilität. Bei den E-Mails sind globale Standards wie SMTP oder IMAP selbstverständlich. Bei den Messengern jedoch herrscht Abschottung – mit fatalen Folgen. Wer WhatsApp nicht nutzen will, ist sozial schnell abgehängt. Der Spruch „aber alle meine Freunde sind auf WhatsApp“ steht sinnbildlich für die Macht der grossen Player.
Durch die konsequent umgesetzte Interoperabilität ergäbe sich ein völlig neuer Markt, der viele unserer heutigen Herausforderunge adressieren würde:
1. Wettbewerb auf Augenhöhe
Ohne Zwang zur Nutzung der grössten App würde sich die Wahl wieder an Funktionalität und Werten orientieren. Wer WhatsApp nicht mag, kann Threema oder Signal nutzen – und dennoch mit allen kommunizieren. Der Lock-in-Effekt entfiele.
2. Innovation und Vielfalt
Start-ups könnten sich mit kreativen Lösungen behaupten, ohne von Anfang an im Abseits zu stehen. Eine Nischen-App für Teenager, für Lehrkräfte oder für Senioren wäre kein Ausschluss mehr, sondern einfach eine weitere Option im interoperablen Netz.
3. Ein besser verteiltes Steuersubstrat
Derzeit zahlen Meta & Co. kaum Steuern in Europa. Entstünden erfolgreiche Alternativen zu WhatsApp, würde die Wertschöpfung sich auch gerechter verteilen – ganz ohne umngelenke Steuergesetze.
4. Datenschutzfreiheit durch Wahlfreiheit
Heute muss man oft trotz Bedenken WhatsApp installieren, um dabei zu sein – ob im Verein oder in der Schulklasse. Eine standardisierte Schnittstelle würde diese erzwungene Entscheidung beenden. Wer Wert auf mehr Privatsphäre und Datenschutz legt, kann z.B. Signal oder Threema nutzen – ohne soziale Nachteile.
Datenschutz darf nicht das Opfer sein
Gerade beim Datenschutz ist besondere Sorgfalt gefragt. Interoperabilität darf nicht zur Hintertür für neue Überwachungsmöglichkeiten werden. Es braucht einen verbindlichen, gemeinsamen Standard mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung – mindestens auf dem Niveau von Signal oder Threema. Metadaten sollten so sparsam wie möglich erhoben, Telefonnummern als Identifikator nicht verpflichtend sein. Wer einen Dienst nutzen will, ohne seine Telefonnummer preiszugeben, muss das auch in Zukunft tun dürfen. Vermittlungs-Server, die Nachrichten entschlüsseln, sind inakzeptabel. Eine echte Lösung kann nur clientseitig funktionieren – und sie muss quelloffen, überprüfbar und unabhängig sein.
Die Umsetzung jetzt nachhaltig einfordern
Immerhin, die Politik hat mit dem Digital Markets Act (DMA) den entscheidenden Schritt getan. Jetzt muss man standhaft bleiben. Man darf sich von den Lobbyisten der Megaplayer nicht einschüchtern lassen. Deadlines sind ohne Wenn und Aber einzufordern.
Interoperabilität ist kein nice-to-have – sie ist eine zentrale Voraussetzung für digitale Selbstbestimmung. Sie bedeutet mehr Wahlfreiheit, mehr Datenschutz, mehr Innovation. Sie bedeutet eine Rückeroberung der digitalen Kommunikation aus der Hand weniger Player. Sie bricht ein Oligopol auf und setzt neue Kräfte frei, schafft einen gesunden Wettbewerb.

